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Events wie Kongresse und Jahrestagungen fanden seit September 2021 bereits wieder in Präsenz und mit teils erstaunlichen Teilnehmerzahlen statt, und auch der bevorstehende Herbst ist als „Präsenz-Saison“ in Planung. Und doch haben sich die Kongresse verändert: virtuelle Elemente haben Einzug gehalten, Hybrid wird zum neuen Standard – wie genau dieser aussieht, ist allerdings noch nicht entschieden.     

Autor: Kai Oehlschlaeger, Senior Director Client Strategy & Business Development bei expopartner

Um zu verstehen, wie die Pandemie die Kongresswelt verändert hat, hilft ein Blick zurück:
Nachdem Zusammenkünfte unmöglich waren, wurden nach einer kurzen Umstellungsphase weltweit Meetings, Tagungen und Kongresse virtualisiert – und alle Stakeholder, von den Fachgesellschaften über Professional Congress Organizer (PCO) und Industrie bis hin zu den Messebauern und Agenturen, mussten sich innerhalb kürzester Zeit das Wissen aneignen, wie man virtuelle Messen und Events konzipiert und realisiert. In der folgenden Zeit wurden weltweit Kongressteilnehmerrekorde gebrochen: der europäische Neurologiekongress EAN versechsfachte seine Teilnehmerzahl von 2019 zu 2020 auf über 42.500, und auch die ASCO brachte an ihren drei Online-Kongresstagen 2021 über 42.700 Teilnehmer aus 138 Ländern zusammen. Es war der Höhepunkt der virtuellen Euphorie – gefolgt von einer Phase der tiefen Ernüchterung, denn schnell wurde klar, dass rein virtuelle Kongresse die menschlichen Zusammenkünfte nicht ersetzen können.

 

Die Entwicklung lässt sich anhand des „Hype Cycle“-Modells, das gemeinhin als Gartner-Kurve bezeichnet wird, sehr anschaulich darstellen.

Die Kurve beschreibt die fünf Phasen der öffentlichen Aufmerksamkeit für eine neue Technologie. Nach einer anfänglichen Begeisterung für die Technologie (hier: die Umsetzung rein virtueller Kongresse), auf die der Gipfel der überzogenen Erwartungen folgt („Braucht es in Zukunft noch Präsenzkongresse?“), führt der Weg direkt in das Tal der Enttäuschungen, weil die Erwartungen nicht erfüllt wurden. Nun gilt es, in einer kritischen Auseinandersetzung auf dem Pfad der Erleuchtung eine realistische Einschätzung der Vorzüge und Grenzen der neuen Technologie herauszufinden. Wie bringen wir physischen Kongress und virtuelle Erweiterung sinnvoll zusammen? Es ist die Phase der Konsolidierung, in der wir uns aktuell befinden. In der letzten Phase, dem „Plateau der Produktivität“ wird die Technologie dann zusehends weiterentwickelt und solider – sie wird zum neuen Standard.

 

Klar ist, dass die virtuellen Angebote nicht grundsätzlich in Frage stehen. In einer deutschen Befragung unter knapp 2.000 Ärztinnen und Ärzten zur Zukunft der ärztlichen Fortbildung votierten drei von vier Befragten als gewünschtes zukünftiges Fortbildungsformat für eine Mischveranstaltung aus (digitalen) Live-Angeboten einschließlich späterer On-Demand Aufzeichnung.1 Und Daten einer Befragung unter rund 300 HCPs aus sechs Ländern (EU & USA) verschiedener Fachrichtungen zeigen, dass auf der einen Seite viele HCPs 2022/23 wieder primär live vor Ort teilnehmen möchten (49%), aber dennoch erwartet immerhin noch die andere Hälfte der Befragten (51%), dass sie Kongresse ganz oder zumindest teilweise virtuell besuchen werden.2

So weit, so klar. Doch wie dieser Mix aus beiden Welten idealerweise genau aussehen soll, wie sich beide Tracks ergänzen, und wie sie untereinander gewichtet sind, ist weiterhin unklar. Erschwerend kommt hinzu, dass es verschiedene Definitionen von Hybrid gibt und viele vom gleichen sprechen, aber nicht dasselbe meinen.

Während ein Definitionsansatz von einer analogen Kernveranstaltung mit Präsenzteilnehmern und einem parallelen virtuellen Zusatzevent mit eigenem Auditorium ausgeht, meint eine weiter gefasste Definition eine wie auch immer geartete Kombination aus einer Onsite-Veranstaltung und begleitenden digitalen Komponenten, mit denen Menschen ohne physische Nähe in Kontakt zueinander treten können.3

Versuchte man am Beginn der Pandemie noch, den traditionellen physischen Kongress in allen seinen Facetten virtuell zu spiegeln, vom wissenschaftlichen Programm bis zur Industrieausstellung mit 3D-Messeständen und Sprechzeiten des Standpersonals, wurde schnell klar, dass sich manche Aspekte wie Networking, Austausch und Messehallenatmosphäre nur sehr schwer bis gar nicht ins Virtuelle übertragen lassen. Der Zugang zu Wissen, Informationen und Meinungen lässt sich digital jedoch hervorragend abbilden. Entsprechend sind virtuelle Welten und Avatare mittlerweile tot, durchgesetzt haben sich klar aufgebaute Online-Mediatheken, die neben Postern, Abstracts & Co. wesentliche Live-Inhalte wie wissenschaftliche Sessions, Workshops und Symposien aufzeichnen und per Livestream oder On-Demand verfügbar machen.

 

Professionalisierung auf Veranstalterseite

 

Der digitale Kongress als selbstständiger Bestandteil des Gesamtprogramms steht erst am Anfang seiner Entwicklung und hat großes Potential. Wie die Pandemie gezeigt hat, kann es Fachgesellschaften mit dem richtigen Preismodell dadurch gelingen, ein viel größeres Publikum zu erreichen als durch die reine Vor-Ort-Veranstaltung. In Zeiten, in denen junge Ärztinnen und Ärzte immer enger im Klinikalltag eingebunden sind und sich mehrere Tage Abwesenheit oft nicht realisieren lassen, sind umfassende Online-Angebote ein echtes Argument für mehr Partizipation. Und natürlich spielen auch ein anderes Mediennutzungsverhalten und die wachsende Relevanz des Nachhaltigkeitsaspekts bei der jungen Generation eine immer größere Rolle.  

Die digitale Erweiterung gibt den Fachgesellschaften darüber hinaus die Möglichkeit, auch das Format der Präsenzkongresse zu optimieren und der physischen Veranstaltung durch die digitalen Angebote mehr Raum für Begegnung und Dialog zu geben. Das heißt weniger Sitzungen und Symposien parallel, längere Pausen und mehr Angebote für Networking und Austausch. Erste Kongresse wie die Viszeralmedizin oder die Neurowoche haben ihre Programme bereits entsprechend daraufhin angepasst. Gleichzeitig professionalisiert sich auch das Online-Angebot. Immer seltener setzt man auf statische Streams und bietet stattdessen mehr hochwertigen Content und öfter auch kuratierte Begleitberichte in Form von Moderation, Interviews und Diskussionsformaten. Und so vielfältig das Online-Angebot wird, so divers werden auch die Congress Attendee Journeys zwischen online und offline, vom Vorfeld bis zur Post-Congress Phase. Hybrid wird hier als komplexer Blend aus Live-Präsenzevent und TV-artiger Berichterstattung umgesetzt.

Pharma muss Business-Model überdenken

 

Hybrid ist also gekommen, um zu bleiben. Das sehen die medizinischen Fachgesellschaften ebenso wie die Industrie. In einer aktuellen Umfrage der International Pharmaceutical Congress Advisory Association (IPCAA) unter 33 Pharmaunternehmen und 27 Fachgesellschaften bejaht eine deutliche Mehrheit (73% Industrie / 62% Medical Societies) die These, dass internationale Kongresse nach der Pandemie hybrid sein werden mit einer freien Wahl zwischen der vollumfänglichen virtuellen oder Präsenz-Teilnahme.4 Für die Fachgesellschaften bedeutet dies doppelten Aufwand, denn die Bereitstellung der Plattform sowie die Produktion hochwertiger Online-Inhalte sind ein nicht zu unterschätzender Aufwands- und Kostenfaktor. Entsprechend ist sie auf zusätzliche Sponsorings der Industrie angewiesen. Die wiederum muss ihre traditionellen Modelle für die Teilnahme an medizinischen Kongressen neu bewerten. Denn der klassische Auftritt aus Messestand und wissenschaftlichem Präsenzsymposium lässt die digitalen Teilnehmer weitgehend unberücksichtigt und zusätzliches Marketingbudget steht oft nicht zur Verfügung.

Und so gab in der zitierten IPCAA-Umfrage jedes zweite Unternehmen an, zukünftig 25 Prozent des Kongressbudgets in Virtual investieren zu wollen, weitere vier von zehn Unternehmen planen demnach sogar eher größere Investments in diesen Bereich. Dies bildet unserer Beobachtung nach interessanterweise noch nicht den Status Quo der Kongressplanung der meisten Unternehmen in 2022 ab. Nach den herausfordernden Jahren der Pandemie lassen sich viele erstmal in die alten Gewohnheiten der Vor-Corona-Zeit zurückfallen.

Dabei gäbe es genug zu tun.

 

Dieser Change wird Zeit brauchen, nicht zuletzt aber auch den Mut, bewusst Dinge zu verändern, zu analysieren und womöglich wieder zu korrigieren.

Das geht es Pharmaunternehmen nicht anders als den Fachgesellschaften selbst. Erfrischend offen sagte hierzu Isabel Bardinet von der European Society of Cardiology, die ESC betrachte den Zeitraum 2022  bis 2024 als Experimentier- und Spielfeld, um das Potential von Hybrid zu untersuchen und damit ihr zukünftiges Offline-/Online-Geschäftsmodell zu optimieren.5

Es ist die Akzeptanz, dass wir uns aktuell noch auf Gartners Pfad der Erleuchtung befinden. Spannend!

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Quelle: Healthcare Marketing 08/2022

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1 PharMedAkademie, expopartner: Befragung der deutschen Ärzteschaft zur Zukunft der ärztlichen Fortbildung,  Oktober 2021.
2 The Creative Engagement Group: How well do you know your congress audience, 2022.
3 Vgl. Dams, C, Luppold, S: Hybride Events. Springer, 2016.
4 IPCAA Survey. Pharma n=33 / Medical Societies n=27. Präsentiert beim 45. Pharma Fortbildungs-Forum, Berlin 2022.
5 IAPCO, AIPC: Hybrid Events. Just How Profound a Pivot? December 2021.

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